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ede Zeit hat ihre eigenen Berge. Orte, die den einen Angst bereiten,
den anderen tiefe Sehnsucht. Und so hat auch jede Zeit ihre eige-
nen Helden, Menschen, die den Gipfel sehen und nicht den schein-
bar unüberwindbaren Weg dorthin.
Als das 20. Jahrhundert anbricht, gibt es einen Berg, der in aller Mun-
de ist – zumindest im Munde all jener, die dem Reiz des Alpinismus
verfallen sind. Und er führt das ihm zugeschriebene Empfinden in sei-
nem Namen: Ushba, der „schreckliche Berg“, wird der Doppelgipfel mit
einem 4.737 Meter hohen Süd- und 4.698 Meter hohem Nordgipfel im
Hauptkamm des Großen Kaukasus in Georgien genannt. Doch am Ende
fand auch er seine Bezwinger. Und eine neue Besitzerin.
Unnahbar
„Der Ushba gleicht eher der Vision eines Fieberkranken als etwas Wirk-
lichem. Ein sensationelles Werk, in welchem sich die Natur selbst
übertrumpft. Ich weiß mich keines Gipfels zu erinnern, dessen An-
blick an Kühnheit und Schönheit den Ushba übertreffen würde“, urteil-
te der deutsche Alpinist und Geograf Gottfried Merzbacher 1891. Der
„schreckliche Berg“, einer der höchsten Georgiens, ist in seiner Schwie-
rigkeit mit dem Matterhorn vergleichbar. Das wusste damals freilich
noch niemand, denn der Ushba, der Bulle mit zwei Hörnern, wie die
Einheimischen ihn nennen, war noch nicht vollends bezwungen. Der
Nordgipfel war bereits 1888 bestiegen worden, doch die große Heraus-
forderung war der damals noch extrem stark vergletscherte Südgipfel.
20 Expeditionen machten sich auf den Weg – alle scheiterten. Darunter
auch eine Tiroler Gruppe rund um den Innsbrucker Ludwig Purtscheller,
die das Wagnis 1889 anging. Doch selbst Purtscheller, der seinerzeit als
bester Kenner der Alpen galt, in denen er über 1.700 Gipfel erstiegen
hatte, musste umkehren.
Noch vierzehn weitere Jahre sollte der Südgipfel des Ushba unberührt
bleiben. Erst am 26. Juli 1903 standen die ersten Menschen auf diesem
Berg – allesamt Männer. Geplant war das so vermutlich nicht. Denn die
Expedition, die aus einigen der besten österreichischen, deutschen und
Schweizer Bergsteigern bestand, hatte eine Besonderheit: eine Frau.
Der andere Berg
Cenzi von Ficker, eine der besten Alpinistinnen ihrer Zeit, war bereits
zu ihren Lebzeiten eine Berühmtheit. Heute kennt ihren Namen kaum
noch jemand. 1878 geboren, war sie von Jugendjahren an mit ihrem
Vater Dr. Julius von Ficker, einem berühmten Rechtshistoriker, und ih-
rem Bruder Heinz, der später ein weltbekannter Meteorologe werden
sollte, von Innsbruck aus in den Bergen unterwegs, insbesondere im
Karwendel und Wetterstein. Mit Hanfseilen, die mehrere Kilogramm
schwer sind, und Bekleidung, die heutigen Bergsteigern höchst hinder-
lich anmuten würden. 1903 ist das Geschwisterpaar schließlich Teil ei-
ner elfköpfigen Expedition unter der Leitung von Willi Rickmers in den
Kaukasus. Das Ziel: der Südgipfel des Ushba.
Man darf davon ausgehen, dass „die Cenz“, wie sie genannt wurde,
ein gleichwertiges Teammitglied der Expedition war – durchaus eine
Besonderheit für die Zeit, denn Frauen im Alpinismus waren damals
sowohl eine Seltenheit als auch nicht gern gesehen. „Für uns Frauen
ist nicht der Berg selbst das Schwierige, sondern was sich um ihn her-
um baut und sich gegen uns stellt“, schreibt Cenzi von Ficker viele Jah-
re später, in ihrem 70. Lebensjahr. Doch sie ist Teil dieses hochkaräti-
gen Teams, laut Berichten von damals auch die Seele, die sich um alles
kümmert. Und letzten Endes auch mit diejenige, die alles rettet.
Am 21. Juli befindet sich die Seilschaft im Aufstieg, als das Un-
glück passiert. Adolf Schulze, der als Erster vorangeht, stürzt. Sein Si-
cherungspartner Heinz, Cenzis Bruder, fängt das Gewicht des 20 Me-
ter nach unten Stürzenden auf und hält ihn – verletzt sich dabei aber
selbst. Cenzi und Expeditionsleiter Rickmers kommen den beiden zu
Hilfe und bringen sie sicher ins Hochlager zurück, wo die Alpinistin sich
um die Verletzten kümmert.
Die Königin
Fünf Tage später bricht das Team erneut Richtung Gipfel auf. Ohne Cen-
zi von Ficker. Warum sie an diesem Tag, an dem die Besteigung des
Südgipfels endlich gelingen sollte, nicht mit dabei war, weiß man nicht.
An ihren bergsteigerischen Fähigkeiten scheitere es definitiv nicht.
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